- Nazarener und Präraffaeliten: Idealistische Künstlerbünde
- Nazarener und Präraffaeliten: Idealistische KünstlerbündeEs scheint, als hätten die Deutschen, die im eigenen Land kein Zentrum der politisch-geistigen Auseinandersetzung fanden, dieses seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nach Rom verlegt. Die »Ewige Stadt« entwickelte sich zu einem Ort des Ausstiegs aus gewohnten gesellschaftlichen Bindungen, zu einem Freiraum neuen Künstlertums. In dieses romantisch verklärte »Paradies auf Zeit« kamen 1810 auch Johann Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Ludwig Vogel und Johann Konrad Hottinger. Zwei Jahre zuvor waren sie noch Studenten an der Wiener Akademie gewesen, freilich unzufrieden mit der dort gelehrten klassizistischen Kunstauffassung. Deshalb hatten sie zusammen mit Joseph Wintergerst und Joseph Sutter 1809 einen »Orden« gegründet, die erste Künstlergemeinschaft, die vom Freundschaftskult der Romantik beflügelt war.Sie nannten sich »Lukasbrüder«, nach dem Evangelisten Lukas, dem Patron der Maler. Ablehnung akademischer Normen und Befolgung ethischer und religiöser Grundsätze waren Aufnahmebedingung. Von Wien zogen sie nach Rom, wo sie sich im leerstehenden Kloster Sant'Isidoro niederließen. In den folgenden Jahren stießen Giovanni Colombo, Peter Cornelius, Wilhelm Schadow, Johann Scheffer von Leonardshoff, Johann und Philipp Veit, Julius Schnorr von Carolsfeld, Carl Philipp Fohr, Ferdinand und Friedrich Olivier zu der Gruppe, die in klösterlicher Abgeschiedenheit die Einheit von Kunst und Religion herstellen wollte. Wegen ihrer langen, in der Mitte gescheitelten Haartracht und ihres christusähnlichen Aussehens wurden die Künstler von den Römern als »Nazarener« verspottet. Der Habitus war zugleich Programm: Nicht die klassische Antike, sondern das »heilige« Mittelalter suchte man in Rom; die Zeitgenossen Dürers und die italienischen Maler vor Raffael, insbesondere Fra Angelico und Perugino, wurden zum Vorbild für die angestrebte Erneuerung der Malerei im Sinne sakraler Gefühlstiefe und eines volksnahen Katholizismus. Zu dieser von der Philosophie Friedrich Schlegels beeinflussten religiösen Ausrichtung gesellte sich ein »neudeutscher«, angeblich im Volkstum verwurzelter Patriotismus. So verkörperte die Gruppe bis gegen 1830, als der »Lukasbund« zu zerfallen begann, eine Form der Romantik, welche in rückwärts gewandter Utopie, das Ideal eines mittelalterlichen Ständestaates vor Augen, die von Aufklärung und Französischer Revolution eingeleiteten republikanischen Ideen bekämpfte.Ihre biblischen, symbolischen und aus der altdeutschen Geschichte und Sagenwelt entnommenen Themen trugen sie in einem naiv-volkstümlichen, schönlinig konturierenden Stil vor. Ziel der Nazarener war es, mit diesen sentimentalischen Mitteln die Wandmalerei zu einer neuen, großen Nationalkunst zu erheben; darin wurden sie in Rom von dem dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen und von den Malern Asmus Jakob Carstens und Joseph Anton Koch unterstützt. Diese Absicht konnten sie jedoch nur in bescheidenem Umfang verwirklichen, etwa mit einigen Fresken in dem vom preußischen Generalkonsul bewohnten Palazzo Zuccari (1816/17) und im Casino Massimo (1817-29) in Rom; allein Cornelius arbeitete, ab 1819 in München, in monumentalem Maßstab. Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Nazarener beruht nicht zuletzt auf ihrem Beitrag zur Wiederentdeckung der altdeutschen Malerei: Ihr räumte etwa Philipp Veit, der ab 1830 Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main war, einen bedeutenden Platz im Museum ein.Eine andere Künstlergemeinschaft gründete sich in den 1820er-Jahren in England. Wie die Nazarener, von deren Kunst sie Kenntnis hatten, eiferten sie - im Rückgriff auf die italienische Malerei vor Raffael und die Neugotik - dem religiösen Beispiel des Mittelalters nach. Dieser Kreis beeinflusste die 1848 in London gegründete Bruderschaft der Präraffaeliten. In Opposition zur »Royal Academy« vereinigten sich die Maler John Everett Millais, William Holman Hunt, die Brüder Dante Gabriel und William Michael Rossetti, James Collinson sowie der Bildhauer Thomas Woolner und der Kunstschriftsteller Frederic George Stephens zu einer bis 1853 bestehenden Gruppe; ihr standen William Dyce, Edward Burne-Jones und Ford Madox Brown nahe, obgleich sie keine offiziellen Mitglieder wurden.Sie alle strebten Bildthemen von sozialer Tragweite an, die sie beispielhaft in mittelalterlicher Sage und Literatur, in der Bibel und in den Dramen Shakespeares vorformuliert glaubten; ihre Ideale erschöpften sich indes nicht im Rückblick auf die Vergangenheit, sondern setzten sich auch mit Phänomenen der Gegenwart auseinander. Häufig diente die altertümliche und allegorische Einkleidung der Motive der Gestaltung vor allem sexueller und morbid-psychologischer Themen, die im prüden Viktorianischen England tabuisiert waren. So bekamen die Bilder der Präraffaeliten eine unverwechselbare Note: mit intensiven, an gotische Glasmalereien erinnernden Farbklängen und einer unerhörten Detailgenauigkeit der Zeichnung, die in ihrem »Fotorealismus« die hintersinnige Symbolik suggestiv vermitteln will. Eine solch unkonventionelle Verbindung sozialer Themen mit einer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von Objekten wurde auch von John Ruskin, Englands einflussreichstem Kritiker des 19. Jahrhunderts, propagiert und zur Verteidigung der Präraffaeliten gegen zeitgenössische Kritiker angeführt.Die Werke der Präraffaeliten sind zwischen romantisch verinnerlichtem Traum, ideeller Ethik und einer zum Surrealen neigenden Wirklichkeitsinterpretation angesiedelt. Ihre Prinzipien wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte auf die angewandte Kunst Englands übertragen: Für seine 1861 in London gegründete Kunstgewerbefirma gewann William Morris als Mitarbeiter Brown, Burne-Jones und Rossetti, die Entwürfe für Produkte lieferten, welche die maschinelle Massenware verdrängen wollten und mit der Betonung des Ornaments zu Wegbereitern des Jugendstils wurden.Dr. Norbert WolfBörsch-Supan, Helmut: Die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées. 1760—1870. München 1988.Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. Sonderausgabe München 1997.Hofmann, Werner: Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830. München 1995.Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.
Universal-Lexikon. 2012.